Infektionskrankheiten: Die Rückkehr der Plagen
Am Morgen war die 55-Jährige wie immer durch den Park gejoggt und danach in den städtischen Kindergarten zur Arbeit gefahren. Abends fühlte sie sich plötzlich unwohl und klagte über krampfartige Schmerzen im Unterleib, die sich rasch verstärkten und bis in den Rücken ausstrahlten. Als sich dann noch heftige Kopfschmerzen, Übelkeit und ein Fiebergefühl einstellten, fuhr ihre Familie sie in die Notaufnahme des Krankenhauses.
Die Ärzte von der Dell Medical School im texanischen Austin untersuchten die Patientin sofort; ihre Gebärmutter war vergrößert, Flüssigkeit hatte sich im Becken angesammelt, und der rechte Eileiter sowie der Eierstock waren entzündet und kaum noch als solche auszumachen. Ein Chirurg entfernte das nekrotische Gewebe und verordnete standardgemäß Antibiotika.
Einen Tag nach dem Eingriff verschlechterte sich der Zustand der Frau dramatisch. Sie fieberte, ihr Herz raste, die Immunzellen in ihrem Blut vermehrten sich massiv. Schließlich bekam die Patientin einen septischen Schock, lebenswichtige Organe (Niere, Leber, Lunge, Darm) versagten den Dienst. Sie wurde erneut in den OP geschoben. Die Nekrose von Beckenorganen war vorangeschritten, und die Ärzte entfernten nun auch die Gebärmutter und den linken Eierstock (später bei einer dritten OP die entzündete Gallenblase).
Knapp überlebt
Wie der Laborbefund zeigte, hatten sichStreptococcus-pyogenes-Bakterien, auch Gruppe-A-Streptokokken (GAS) genannt, im Unterleib der Frau ausgebreitet und das Unheil angerichtet. Die 55-Jährige musste eine Woche lang beatmet werden. Sie überlebte, weil die Ärzte die von den Bakterien befallenen Organe rasch entfernten und der Frau, nachdem sie wussten, dass sie es mit GAS zu tun hatten, die Antibiotika Penizillin und Clindamycin gaben.
Eltern von Kindergartenkindern kennen Streptococcus pyogenes häufig aus anderen Zusammenhängen. Wenn der Kinderarzt Scharlach diagnostiziert, sind dieselben Bakterien am Werk. S. pyogenes kann beim Menschen verschiedene Erkrankungen verursachen, Entzündungen des Rachens (Scharlach), der Haut (Wundrose oder Erysipel), der Hirnhäute und der Lunge. Es gibt mehr als 100 verschiedene genetische Varianten dieser Bakterienart. Welche Symptome sie auslösen, ist abhängig vom Bakterientyp, aber auch vom Alter, von Vorerkrankungen, vom Immunstatus, von der Lebenssituation des Infizierten und noch unbekannten Faktoren. Eine bisher unverstandene Besonderheit dieser Bakterien ist, dass sie schwere Erkrankungen bei sonst völlig fitten Menschen hervorrufen können.
Manche Menschen beherbergen Streptokokken, ohne überhaupt irgendwelche Symptome zu zeigen. »Gefährlich wird es immer dann, wenn die Bakterien in den Körper eindringen und sich über das Blut verteilen«, sagt Mark van der Linden, Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Streptokokken an der Uniklinik RWTH Aachen. Das ende dann ganz schnell tödlich, weil Bakterientoxine das Immunsystem durcheinanderbrächten und es zu einem septischen Schock käme. Gefürchtet ist außerdem die nekrotisierende Fasziitis, bei der über Hautverletzungen eingedrungene Bakterien ihr Unwesen in tieferen Hautschichten und den Faszien treiben. Seit Ende der 1980er Jahre steigt die Häufigkeit der invasiven Streptokokken-Infektionen. In jedem Jahr treten weltweit schätzungsweise 663 000 neue Fälle auf, rund 163 000 davon enden tödlich.
Gruppe-A-Streptokokken besiedeln den Vaginaltrakt sehr selten. Eine Studie mit Schwangeren fand die Bakterien bei nur 0,03 Prozent der Frauen (positiv bei 2 von 6944 Proben), die Trägerinnen sind zudem meist ohne Symptome. Eine Beckenentzündung durch GAS wie bei der texanischen Kindergärtnerin ist also ein sehr seltenes Ereignis. Dennoch kommt sie vor.
Das gefährliche Scharlach-Comeback
Und auch Scharlach gibt es wieder häufiger. Laut einer epidemiologischen Studie britischer Ärzte erkrankten in England 2014 dreimal so viele Menschen an Scharlach wie im Vorjahr. 2016 gipfelte der Ausbruch in 19 000 Erkrankungsfällen. Auch in Nordostasien, insbesondere Hongkong, gibt es seit 2011 besonders viele Scharlachfälle. Ursache für dieses plötzliche Aufflammen ist nicht etwa das Auftreten eines (neuen) gefährlichen Bakterienstamms. Die Forscher isolierten zahlreiche verschiedene Bakterienstämme.
Exakte Angaben zur Scharlachhäufigkeit in Deutschland gibt es nicht, da keine Meldepflicht besteht. »Aber auch wir haben das Gefühl, dass es in Deutschland zurzeit mehr Scharlachkranke gibt als zuvor; warum, ist unbekannt«, gibt Mark van der Linden zu bedenken. Die australischen Mikrobiologen Mark Walker und Stephen Brouwer vom Zentrum für Infektionsforschung in Brisbane halten Veränderungen im Immunstatus der Bevölkerung, veränderte Umweltbedingungen und möglicherweise das Auftreten eines bisher unbekannten infektiösen Kofaktors, der die Empfänglichkeit für Scharlach steigert, für möglich.
»Der moderne Mensch lebt, was Infektionskrankheiten anbetrifft, in einem selbstbetrügerischen Zustand«
Mark van der Linden
Das Beispiel Streptococcus pyogenes zeigt, wie unvermittelt eine Infektionskrankheit zuschlagen und wie schnell der seidene Faden, an dem ein Menschenleben hängt, reißen kann angesichts von Bakterien und auch Viren oder Parasiten, die uns umgeben. Dieses Bewusstsein scheint bisweilen abhandengekommen zu sein. »Der moderne Mensch lebt, was Infektionskrankheiten anbetrifft, in einem selbstbetrügerischen Zustand«, konstatiert Mark van der Linden. Der Mensch, der sich selbst als Nabel der Welt betrachte, um den sich alles zu drehen habe, vergesse: »Bakterien sind überall, und der Mensch lebt trotz der Bakterien.« Der Mensch habe sich im Lauf der Evolution ein genetisch festgelegtes Lebenszeitfenster von rund 100 Jahren erkämpft, »danach übernehmen die Bakterien wieder«, erläutert der Streptokokken-Experte.
Laut van der Linden gibt es nur drei Gründe, warum die durchschnittliche Lebenserwartung heute bei 81 Jahren liegt und nicht mehr bei 35 wie noch vor 150 Jahren. Diese Gründe sind Hygiene, Antibiotika und Impfungen. »Wir können immer nur versuchen, das Risiko einer Ansteckung zu minimieren, aber auf null setzen können wir es nie, da wir niemals alle Faktoren, die an der Infektion mitwirken, beeinflussen können.« Außerdem sind Bakterien enorm wandlungsfähig. »Wir ändern die Welt durch unser Verhalten, aber die Bakterien ändern sich mit und passen sich an«, sagt van der Linden.
Scharlach weltweit nicht resistent gegen Penizillin
Ein wirksames Gegenmittel bei GAS-Infektionen, seien sie invasiv wie beim Fall der Kindergärtnerin oder auch bei Scharlach, ist das Penizillin. »Penizillin hilft hier immer, Streptococcus pygenes ist weltweit nicht resistent gegenüber Penizillin, zum Glück«, erklärt van der Linden. Scharlach müsse unbedingt mit Penizillin behandelt werden, so der Aachener Experte. »Es wäre nicht ratsam, kein Antibiotikum zu nehmen.« In seltenen Fällen komme es als Folge einer unzureichend behandelten Scharlacherkrankung nämlich zu bedrohlichen Komplikationen, dem rheumatischen Fieber oder einer Entzündung der Nieren (Glomerulonephritis). Noch im 19. Jahrhundert war Scharlach ein bedeutsames Gesundheitsproblem, an dem viele starben. Anfang des 20. Jahrhunderts (noch vor der allgemeinen Verfügbarkeit von Antibiotika) ging die Sterberate auf etwa zwei Prozent zurück, weil vermutlich Bakterienstämme kursierten, die weniger virulent waren.
Van der Lindens Aachener Team hat die invasiven Streptokokken-Infektionen in Deutschland aus den Jahren 2009 bis 2014 genauer angeschaut. Im Vergleich zu anderen Ländern sind die Fallzahlen niedrig, aktuell liegen sie bei 0,15 pro 100 000 Menschen. Die Erkrankungen wurden hauptsächlich durch drei verschiedene Bakterientypen ausgelöst und traten zeitlich gehäuft im ausgehenden Winter oder im beginnenden Frühling auf. Kleine Kinder (0 bis 5 Jahre alt) und ältere Menschen über 70 Jahre waren am häufigsten betroffen. Als Risikofaktoren für eine Infektion machten die Forscher Diabetes, ein geschwächtes Immunsystem sowie chronische Hautwunden aus.
Krätze breitet sich wieder aus
Eine mögliche Eintrittspforte für Streptococcus pyogenes sind beispielsweise Kratzwunden, wie sie bei einer unbehandelten Krätze auftreten können. Anton Aebischer, Experte für Pilz- und Parasiteninfektionen am Robert Koch-Institut in Berlin, spricht absichtlich nicht von Krätze, sondern benutzt das lateinische Wort Skabies. »Wenn ich vor 100 Leuten einen Vortrag zum Thema halte, fangen mindestens 15 Zuhörer an, sich zu kratzen.« Dabei sei es wichtig, rational damit umzugehen, sachlich zu informieren, was die Krankheit sei, wie sie diagnostiziert und therapiert werden könne.
Aus der Literatur wisse man, dass die Skabies in ihrer Häufigkeit wellenförmig auftrete. Manche Forscher vermuteten, so Aebischer, dass es eine Art Immunität gegen gewisse Antigene der Milbe gäbe, die eine Zeit lang vor einer Ansteckung schützt und damit die ungehinderte Weiterverbreitung hemmen könnte. Beengte räumliche Verhältnisse, denen Menschen zum Beispiel während Migrationsbewegungen infolge von Klimakatastrophen oder politischen Konflikten ausgesetzt sind, begünstigen die Ausbreitung von Skabies. »Da die Krankheit nicht meldepflichtig ist, haben wir keine genauen Zahlen. Die Diagnose Skabies fluktuiert und scheint in Deutschland regional zuzunehmen, gleich zu bleiben oder abzunehmen«, berichtet Aebischer.
Die Skabiesmilbe (Sarcoptes scabiei) begleitet den Menschen – ähnlich wie die Kopflaus –, seit es ihn gibt, und tritt immer dann auf, wenn Menschen eng beieinander sind. Die Milbe wird durch Hautkontakt übertragen, legt ihre Eier in zuvor gegrabene Gänge der obersten Hautschicht ab, aus denen nach 14 bis 21 Tagen die Nachkommen schlüpfen. Außerhalb des Körpers sind die Spinnentiere nur wenige Tage überlebensfähig. Skabies sei zwar kein medizinischer Notfall, wie Aebischer betont, aber dennoch ein weltweit bedeutendes Gesundheitsproblem. Wird die Krankheit nicht behandelt, können als Folge des starken Juckreizes gefährliche Komplikationen auftreten, wenn Bakterien (neben Streptococcus pyogenes auch Staphylococcus aureus) die aufgekratzte Haut infizieren. Es brauche ärztliche Erfahrung, um die Skabies als solche zu erkennen, und einen offenen Umgang mit dem Problem, um sie einzudämmen, sagt Aebischer. Wenn die Diagnose getroffen wurde, kann die Milbe gut behandelt werden.
Syphilis und Tripper nehmen massiv zu
Sexuell übertragene Krankheiten (STI) wie Syphilis oder Tripper sind wohl ebenfalls so alt wie die Menschheit selbst. Heinrich VII. hatte sie, die »Lustseuche« Syphilis, Iwan der Schreckliche, Katharina die Große, Francisco de Goya, Franz Schubert, Ludwig van Beethoven und Heinrich Heine ebenso. Die WHO schätzt, dass sich weltweit jeden Tag mehr als eine Million Menschen neu mit einer STI infizieren. Häufig bleibt eine solche Ansteckung zunächst unbemerkt, manchmal treten Beschwerden wie Schmerzen, Geschwüre, Ausfluss auf, manchmal aber auch nicht. Trotz ihrer zum Teil stillen Präsenz sind Geschlechtskrankheiten folgenreich. Bei einem Drittel aller schwangeren Frauen wirkt sich etwa eine Syphilisinfektion nachteilig auf das Kind aus, manche erleiden eine Totgeburt. Manche STIs verursachen eine Beckenentzündung, Unfruchtbarkeit, Frühgeburt oder bewirken, dass das Kind mit einem sehr niedrigen Gewicht auf die Welt kommt.
Besorgnis erregend ist der aktuell beobachtete weltweite Anstieg von Syphilis (in Deutschland steigen die Zahlen seit 2010, 2015 wurden dem Robert Koch-Institut 6834 Fälle gemeldet, das sind 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor) und eine zunehmende Antibiotikaresistenz der Gonokokken, die Tripper verursachen, der ebenfalls wieder häufiger auftritt. Betroffen in den Ballungszentren sind hauptsächlich Männer, die Sex mit Männern haben. Als mögliche Ursache nennen die Epidemiologinnen Nicola Low und Nathalie Broutet ungewollte Konsequenzen der antiretroviralen HIV-Therapie. Dank der Kombinationstherapien, die die Viruslast bei Infizierten unter die Nachweisgrenze drücken, und der Verfügbarkeit der Präexpositionsprophylaxe verzichten Männer auf den Gebrauch eines Kondoms – und stecken sich wieder häufiger mit anderen STI an.
Infektionskrankheiten sind eine Bedrohung für den Menschen, nach wie vor. Von den Top Ten der weltweit häufigsten Todesursachen seien sieben Positionen von Infektionskrankheiten besetzt, sagt Streptokokken-Experte van der Linden. Ohne in Angst und Schrecken zu verfallen, sollten wir uns über die ständige Gegenwart von Krankheitserregern bewusst sein und Errungenschaften bei Therapie und Prophylaxe (auch Impfungen) sinnvoll nutzen. Informiert sein, auf Hygiene achten, therapieren und im Hinterkopf behalten: Die Rückkehr der Plagen oder besser das Wiederaufflammen gewisser Infektionskrankheiten ist jederzeit möglich, weil die Verursacher nie wirklich ganz weg waren, sondern nur auf ihre Chance warten.
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